Schülerseminar Helmstedt - 2023

Schülerseminar Helmstedt - 2023

"Mit Diktatoren reden?"

Cranach-Gymnasiasten fester Bestandteil des Schülerseminars im Rahmen der Helmstedter Universitätstage

Helmstedt / Wittenberg: Das Thema der 29. Helmstedter Universitätstage hätte vom Beirat unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Martin Sabrow nicht treffender gewählt werden können. "Mit Diktatoren reden?" besitzt eine derartige Aktualität, Brisanz und Ambivalenz, die polarisiert und kontroverse Debatten regelrecht herausfordert. Dies war auch allerorten während der Vorträge auf dem "Kleinen Historikerkongress" als auch in den Veranstaltungen des Schülerseminars deutlich zu spüren gewesen.

Seit über einem Jahrzehnt sind Schülerinnen und Schüler des Lucas-Cranach-Gymnasiums Bestandteil dieses bundesländerübergreifenden Projektes. Initiiert wurde diese Zusammenarbeit über ein Geschichtsprojekt zur Teilungsgeschichte und dem Grenzregime von Frau Walther. Herr Fuchs intensivierte diese Kooperation auf verschiedenen Ebenen.

Kurz nach der Anreise und dem Einchecken fand eine Kennenlernrunde der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler aus den beiden Helmstedter Gymnasien und dem Wittenberger Lucas-Cranach-Gymnasium statt. Danach ging es dann gleich in die Vollen. Frau Dr. Anne Hartmann konfrontierte die Schüler gleich mit der Frage: Sollte oder dürfte man in Diktaturen Urlaub machen? Anhand dieses Einstiegs erläuterte sie die unterschiedlichen Perspektiven und Interessenlagen von westlichen Intellektuellen einerseits und dem stalinistischen Regime andererseits in den 30ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Dieses Jahrzehnt in der UdSSR war geprägt von einem rasanten Wirtschaftswachstum, als zeitgleich die Weltwirtschaftskrise große Teile der Welt erschütterte. Andererseits waren Willkür, Terror und Schauprozesse allgegenwärtig, als Shaw, Wells, Rolland und Feuchtwanger das Land besuchten und mit Stalin Gespräche führen durften. Wie haben sie diese Eindrücke reflektiert? Waren sie Verräter? Erhielt das Stalin-Regime die erhoffte Reputation? waren nur einige Fragen, die gemeinsam erörtert wurden.

Nach einer kleinen Stärkung ging es dann in das alt ehrwürdige Roxy - einem Kino, das immer noch den Charme der 70er Jahre verkörpert. Auf dem Programm stand der DEFA-Film "Till Eulenspiegel" von 1974. Die Schelm und Narrenfigur wurde hierzu völlig konträr dargestellt. In stetigem Konflikt mit den Herrschern waren die Späße im Film so angelegt, dass dem Zuschauer das Lachen sprichwörtlich im Halse stecken blieb. Dies bekräftigte der anwesende Filmmacher Rainer Simon in der anschließenden Gesprächsrunde.

Was bedeutet eine Diktatur eigentlich praktisch? Dieses Thema stand am Freitag im Zentrum des Schülerseminars. Mit einem Besuch des Zonengrenzmuseums und anschließendem Stadtrundgang wurde Helmstedt als Nahtstelle zwischen Ost und West in der Zeit des Kalten Krieges reflektiert. Zudem kamen viele geschichtliche Parallelen zwischen Wittenberg und Helmstedt zutage.

Am frühen Nachmittag gab es dann zunächst geteilte Gesprächsrunden zwischen Referenten und Schülern.
Der Journalist Sven Felix Kellerhoff thematisierte sehr anschaulich vor und mit den Schülern Kennzeichen und Wirkmächtigkeit von verschiedenen Diktaturen in Vergangenheit und Gegenwart. Seine eindringlichen Worte "Diktaturen vergleichen - Unterschiede herausarbeiten, aber keineswegs gleichsetzen oder aufrechnen." wurden von den Anwesenden verinnerlicht.

Zeitgleich erörterte Prof. Dr. Christopher Kopper "Das Geschäft mit der Diktatur: VW do Brazil". Diese Seite eines der bedeutendsten deutschen Autokonzerne war den Schülern eher unbekannt und von einer enormen Ambivalenz geprägt. Dass seine Studie in der Endkonsequenz sogar zu einer Entschädigung von brasilianischen Werksangehörigen führte, die Gewaltopfer der Diktatur geworden waren und ein partielles Umdenken im Konzernmanagement zur Folge hatte, beeindruckte die Anwesenden sehr. Inwieweit sich hier jedoch aktuell ähnliche Entwicklungen in China erkennen und belegen lassen, blieb eher randständig und sollte zukünftigen Historikergenerationen überlassen werden.
Eingestimmt auf das Thema ging es im Anschluss in das Juleum, dem Hauptgebäude der ehemaligen Universität Helmstedt. Diese war im Zusammenhang mit der französischen Besetzung zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschlossen worden. Ein ähnliches fast zeitgleiches Schicksal erlebte ja die hiesige Wittenberger Leucorea.

Im voll besetzten Hörsaal, dem Auditorium maximum, hielt nach der Begrüßung Dr. Gerhart Baum die Eröffnungsrede zu Spannungsverhältnissen in der Außenpolitik. Der 90zigjährige liberale Politiker und Jurist beeindruckte als Zeit- und Augenzeuge bundesdeutscher Geschichte mit seiner Klar- und Strukturiertheit seines Vortrags, wie mehrere Schüler anmerkten. Nicht nur als ehemaliger Bundesinnenminister unter Helmut Schmidt hat er sich einen Namen gemacht. Als Jurist setzte er sich für die sowjetischen Opfer der Zwangsarbeit, des Olympia-Attentates von München oder der Loveparade in Diusburg ein.

Der Spiritus Rector der Veranstaltung, Prof. Sabrow, skizzierte die vielschichtigen Facetten der diesjährigen Thematik und gab einen Ausblick auf die folgenden Vorträge, auf die die Schülerinnen und Schüler sich bereits im Vorfeld eingestimmt hatten.

Speziell Herr Kellerhoff gab seiner Thematik "Neville Chamberlain und das Münchner Abkommen 1938" eine besondere Würze. "I believe it is peace for our time." - waren es wirklich nur acht Worte die als politisches Erbe des britischen Premiers in die Geschichte eingingen? Wie ging und wie sollte man überhaupt mit Diktatoren umgehen? Neben der partiellen Reputation Chamberlains zeigte er zudem plausible nachvollziehbare Strategien auf, wie der heutige Umgang mit Diktaturen und Autokratien erfolgen sollte. In seinen Überlegungen steht der Friedenserhalt vor Gewaltanwendung an oberster Stelle. Reden solange wie möglich, aber aus einer Politik der Stärke heraus. Nie auf die Methoden der Diktatoren einlassen und immer die freie Entscheidung bewahren, mit wem man spricht, Opposition eingeschlossen, waren seine weiteren Tipps. Diese abschließenden Worte beschlossen den Freitagabend. Einige Schüler waren nun am Ende des Tages regelrecht "platt". So anstrengend hätten sie sich den Ausflug in universitäre Sphären nicht vorgestellt, war gleich mehrfach zu hören.

Den Abschluss des Schülerseminars am Samstag bildeten noch drei Vorträge, die sich den bundesdeutschen Umgang mit Diktaturen aus der außen-innenpolitischen und ökonomischen Ebene widmeten. Angereichert mit zahlreichen Episoden, Anekdoten und Zitaten waren die Referate nicht nur inhaltlich überzeugend, sondern boten zudem einen hohen Unterhaltungswert. Sei es das Verlesen des Protokolls eines Telefonats zwischen Helmut Kohl und Erich Honecker, ein gereichtes Hustenbonbon zum Abschied des Schmidt-Besuchs in Güstrow oder das Zitat von Egon Bahr zu den deutsch-deutschen Verhandlungen: "Früher hatten wir keine Beziehungen. Jetzt haben wir schlechte. Das ist der Fortschritt." Sie ließen die Zeit wie im Fluge vergehen.

Voll beladen mit Eindrücken, einem vertieften Wissen zum Umgang mit Diktaturen in Geschichte und Gegenwart und den zwischen den Bundesländern bestehenden schulischen Unterschieden kehrten die Teilnehmer des Cranach-Gymnasiums heim.

Der einhellige Tenor der Schüler fiel dementsprechend weniger widersprüchlich aus. Diese Tage waren insgesamt vollgepackt, anstrengend und laufintensiv. Der Austausch mit den Helmstedter Gymnasiasten, mit Historikern, Journalisten, Filmschaffenden, Zeit- und Augenzeugen, die gewonnenen Einblicke in universitäre Abläufe mit Seminaren und Vorlesungen machten dies jedoch mehr als wett. Zudem konnte man an einem Thema ausgerichtet vertiefte inhaltliche Erfahrungen und historische Betrachtungsweisen gewinnen, auf die man im weiteren Schulalltag zurückgreifen kann. Kurz gesagt: "Helmstedt war eine Reise wert." (Tim B.) "Die Kontakte zu Schulen außerhalb Sachsen-Anhalts sollten beibehalten werden." (Marten T.) "Dank an die Organisatoren und Förderer für das abwechslungsreiche Programm". (Marlene W.)

K. Fuchs
begleitende Lehrkraft, 24.09.2023
Fotos privat: Fuchs / Schwerin

Bildergalerie

Zum Anzeigen auf die Vorschaubilder klicken. Bildwechsel mit Pfeiltasten, Beenden mit ESC oder ENTER.