Verfolgung und Vernichtung von Menschen
"Zwangslager vor der Haustür - Wittenberg im Nationalsozialismus"
Auschwitz, Buchenwald, Dachau sind die immer wiederkehrenden Namen, die Ikonen, die für Verfolgung und Vernichtung von Menschen im Nationalsozialismus stehen. Jeder, der sich im Nationalsozialismus nicht systemkonform verhielt, oder aus willkürlichen Gründen heraus ins Blickfeld der Institutionen des NS-Machtapparates geriet, war potentiell gefährdet und konnte zum Insassen eines Lagers werden. Dies war nur eine kleine Minderheit der deutschen Bevölkerung, denn mehr als 90% waren in vielfältigen Funktionen, Organisationen und Vereinen mit dem Nationalsozialismus mehr oder minder verwoben.
Das sich in der Zeit des Nationalsozialismus ein flächendeckendes Lagersystem wie ein Spinnennetz über Deutschland und im Zweiten Weltkrieg über weite Teile Europas erstreckte, ist durchaus allerorten bekannt. Wie es jedoch konkret am Wohnort, auf der lokalen Ebene aussah und welche Spuren sich bis heute finden lassen, ist oft durch große Defizite geprägt.
Einen ausgewählten Aspekt des Nationalsozialismus auf regionaler Ebene stellten Frau Renate Gruber-Lieblich und Frau Johanna Keller in ihren Impulsvorträgen zur Zwangsarbeit in der Lutherstadt Wittenberg vor.
Frau Renate Gruber-Lieblich stellte zunächst die Dimension des Wittenberger Standortes der ARADO Flugzeugwerke GmbH im Mittelfeld im Osten der Stadt vor. Nicht nur die bisherige Geschäftsführung der Flugzeugwerke sondern ebenso die Inhaber der Wittenberger Maiblumenzucht mussten 1936 ihre Tätigkeiten einstellen und die Betriebe deutlich unter Wert an die NS veräußern. Mit dem zweiten Vierjahresplan und nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht wurde ein umfangreiches Rüstungsprogramm initiiert. Der Auf- und Ausbau des ARADO-Standortes in Wittenberg ordnete sich hier nahtlos ein. Bereits nach anderthalb Jahren (1938) waren die Anlagen produktionsfertig. Neben Schulungsflugzeugen wurden Jagdbomber, Aufklärungsflugzeuge, Kampfzonentransporter bis hin zu Strahlbombern von den mehr als 4000 Beschäftigten (1942) gefertigt. Zudem waren die ARADO-Werke in Wittenberg Zulieferer für die Junkers-Werke (Ju 88), produzierten Teile für die Heinkel-Bomber oder Focke-Wulf. Um den Arbeitskräftebedarf während des Zweiten Weltkrieges abzudecken, waren mehr als 1000 KZ-Häftlinge, überwiegend Frauen aus dem KZ Ravensbrück, als Zwangsarbeiter in den ARADO-Werken tätig. Da dies immer noch nicht ausreichte, musste sogar die Belegschaft der Kantschen Schokoladenfabrik (Dessauer Str. - Wikana) in die Flugzeugwerke zum Arbeiten wechseln. Zeitzeugenberichte, u.a. von einer jüdischen Ärztin, verdeutlichten die Zustände während der Arbeit und in den beiden Lagerbereichen für die KZ-Häftlinge in den Wittenberger ARADO-Flugzeugwerken.
Zeitgleich, d.h. mit Beginn des zweiten Vierjahresplanes 1936, so berichtete Frau Johanna Keller, wurden für den Ausbau der Infrastruktur vermehrt Strafgefangene herangezogen. Im Rahmen der Elberegulierung wurde der Standort in Coswig/Anhalt nach Griebo verlagert und dort ein Barackenlager errichtet. Parallel dazu gab es, als mobile Einsatzmöglichkeit für die Häftlinge, ein umgebautes Ausflugsschiff. Mit diesem konnten schwer zugängliche Uferbereiche von der Flussseite her besser erreicht werden. Sie berichtete aus Gesprächen mit Zeitzeugen und deren Nachfahren über die Zustände im Lager, die Arbeitsfelder und die Gründe der Inhaftierung. Neben kriminellen Handlungen waren Homosexualität, Liebe zu Fremdarbeitern, Schwarzschlachten von Schweinen bis hin zum Verteilen von Flugblättern Haftgründe gewesen. Mehr als 1500 Gefangene waren in diesem Strafgefangenenlager (1941) zeitweilig untergebracht. Während die Regulierungsarbeiten im Bereich der Elbe zunehmend in den Hintergrund rückten, wurden die Häftlingen immer stärker im Bereich der Rüstungsindustrie eingesetzt. Neben den Stickstoffwerken, der WASAG gehörten aber auch die Junkers-Werke in Dessau oder Produktionsstätten in Köthen zu den Einsatzorten der Häftlinge aus Griebo. Die körperlich anstrengenden Tätigkeiten und die kümmerliche Versorgung forderten ihren Tribut. Nachweislich wurden ca. 500 Tote (Zwangsarbeiter, Fremdarbeiter, Häftlinge ...) in einem Massengrab in Apollensdorf-Nord beigesetzt, an die heute noch eine Gedenktafel erinnert. Ähnliches ist in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Strafgefangenlagers Griebo im letzten Jahr entstanden. Den Impuls dazu gab die heutige Referentin und ehemalige Schülerin des LCG mit einer Besonderen Lernleistung zur gleichnamigen Thematik, die sich zudem weiterhin für die Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit der vergangenen Geschichte engagiert. Unter www.vom-vergessen-zum-erinnern.com kann der weitere Fortgang ihrer Studien und Recherchen zu diesen Themenfeldern verfolgt werden. Mehr als 15000 Zwangsarbeiter in der Zeit des Nationalsozialismus, allein in den Rüstungsbetrieben der Lutherstadt Wittenberg, sind Zeugnis dafür, dass sich Zwangsarbeit nicht ausschließlich in abgeschiedenen Lagern bzw. Regionen des Landes sondern unter aller Augen der Bevölkerung vollzog. Dies weiter aufzuarbeiten, dürfte noch Jahrzehnte andauern.
Kurt Fuchs
FSL GeWi
Siehe auch Mitteldeutsche Zeitung vom 20.10.2016